
Ich bin Mike Josef.
Frankfurter Stadtverordneter, SPD-Vorsitzender, Planungs- und Sportdezernent und nun sogar Oberbürgermeister-Kandidat: Das habe ich mir als Jugendlicher und auch als Student in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Da, wo ich herkomme, wird man, wenn alles gut läuft, vielleicht Facharbeiter. Meine Eltern stammen aus Syrien, aus der Stadt Kameshly im Nordosten des Landes, wo auch ich 1983 zur Welt kam. Ich war noch ein kleines Kind, als sie das Land verließen und nach Deutschland gingen, wo sie als politische Flüchtlinge anerkannt wurden. Als Christen waren sie in Syrien nicht mehr sicher gewesen.
Meine Heimatstadt ist Ulm. Dort haben meine Eltern nach einem kurzen Aufenthalt in der kleinen Stadt Krauchenwies nördlich des Bodensees im Stadtteil Wiblingen eine Wohnung gefunden, dort wurden auch meine zwei Schwestern geboren. Als Lagerarbeiter hat mein Vater natürlich keine Reichtümer verdient, aber wir waren trotzdem eine zufriedene Familie. Die Leute in der Trabanten-Siedlung Wiblingen, darunter viele Gastarbeiter und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion haben zusammengehalten. Das war vor Frankfurt eine erste multikulturelle Erfahrung für mich. Die Jahre in Ulm empfinde ich noch immer als eine supercoole Zeit. Bis heute halte ich Kontakt zu meinen Klassen- und Sportkameraden, sie stellen für mich eine wichtige Verbindung zur normalen Welt dar, also zu Leuten, die kaum mit Politik in Berührung kommen.
Ich war, das muss ich gestehen, in Ulm kein besonders guter Schüler. Ich hatte weniger Mathe und Bio im Kopf, sondern vor allem Fußball. Meine Fußballkumpels sagen noch heute, dass ich nicht verlieren konnte. Als der große SV Ulm mich vom TV Wiblingen abwarb, träumte ich sogar von einer Profikarriere. Die Schule kam zu kurz, weshalb ich beim ersten Anlauf zum Fachabitur scheiterte. Danach wusste ich, dass die Lage ernst war: Entweder schaffte ich den Abschluss oder ich würde mit nichts in der Hand dastehen. Ich schaffte ihn und konnte damit studieren – leider nicht an einer Universität, sondern nur an einer Fachschule. So bin ich nach meinem Ersatzdienst in Ulm nach Frankfurt gekommen. Nach ein paar Semester „Soziales Lernen“ dort konnte ich 2004 an die Goethe-Universität übertreten und Politik, Geschichte und Rechtswissenschaft studieren.
Dort bin ich zum ersten Mal richtig mit Politik in Berührung gekommen. Ein Kommilitone, der Jungsozialist war, überredete mich zu einer Kandidatur für den Asta der Universität – und ich wurde gewählt. Unser politisches Ziel war klar: Die hessische Landesregierung unter Roland Koch sollte die neu eingeführten Studiengebühren wieder abschaffen. Für mich, der aus keiner wohlhabenden Familie stammt, war klar, dass Studiengebühren junge Menschen aus weniger begüterten Schichten allzu schnell vor einem Studium abschrecken. Ich selbst hätte ohne Bafög nicht studieren können, und die Studiengebühren waren für mich viel Geld. Unser Kampf war erfolgreich, die Landesregierung schaffte wegen der vielen Proteste die Studiengebühren wieder ab.
Bis heute treibt mich das Thema Bildungsgerechtigkeit um. Wir müssen jedem jungen Menschen die Chance geben, dass er etwas aus sich machen kann. Ohne gute Förderung und Unterstützung bleiben zu viele Kinder aus den ärmeren Schichten auf der Strecke.
Ich selbst hatte Glück und fand nach meinem Studium eine Stelle als Organisationssekretär beim Deutschen Gewerkschaftsbund und wurde bald darauf auch noch als Stadtverordneter der SPD in den Römer gewählt. Nach dem Amt des Frankfurter SPD-Vorsitzenden habe ich mich nicht gedrängt, ich wurde vielmehr vom scheidenden Vorsitzenden vorgeschlagen und 2013 mit großer Mehrheit gewählt. Ich halte mir zugute, die Sozialdemokraten zu einer neuen Einheit geführt zu haben, die ihr 2016 den Eintritt in die Stadtregierung ermöglichte. Mir wurde das Amt des Planungsdezernenten angetragen und ich habe es angenommen. Seit 2021 habe ich zusätzlich das Ressort Sport übernommen, was mich als alten Fußballer besonders freut. Nun hat mich meine Partei mit großer Mehrheit zum Oberbürgermeisterkandidaten bestimmt.
Manchmal muss ich mich kneifen, um festzustellen, ob das tatsächlich alles wahr ist: Ein Kind syrischer Flüchtlinge gestaltet die Geschicke einer wichtigen deutschen Großstadt als hauptamtlicher Stadtrat mit und wird jetzt vielleicht Oberbürgermeister. Hier in Frankfurt, meiner neuen Heimatstadt, habe ich auch meine Frau gefunden, mit der ich zwei Kinder habe. Ich nehme das alles mit großer Demut wahr. Meine Eltern haben mich gelehrt, nie hochmütig zu werden und meine Herkunft nicht zu vergessen. Daran werde ich mich immer halten.